Samstag, 20. August 2016

Gewalt im Bordell Europas - ein "Arbeitsunfall"?

„Der Arbeitsvertrag sah vor, dass sie die Hälfte ihres Lohns an ihren Arbeitgeber auszurichten habe, sie 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen müsse und ihr eine Wohnung, Essen, Arbeitskleidung, Flugtickets, Papiere und Werbung gestellt werden würde (sic). Sie arbeitete daraufhin in verschiedenen von ihrem Arbeitgeber angemieteten Wohnungen und in einem Club. Die Kontaktperson ihres Arbeitgebers, ein Mann, wurde im Laufe der Zeit jedoch immer aufdringlicher. Zum Ende hin wich er ihr nicht mehr von der Seite und sie musste sexuelle Handlungen an ihm, unbezahlt und auch gegen ihren ausdrücklichen Willen, vornehmen. Eines Tages hat er sie schließlich in einer der angemieteten Wohnungen eingesperrt, mit dem Versprechen bald wiederzukommen und sich um ihre Papiere zu kümmern. Zwei Tage lang geschah nichts. Schließlich stieß sie in einem Internetforum auf einen Bericht einer anderen Frau, die eine ähnlich schlimme Erfahrung mit dem besagten Mann gemacht hatte. Sie beschloss, sich aus dieser Situation zu befreien und sprang aus dem Fenster. Dabei erlitt sie schwere Verletzungen am unteren Rücken und an den Beinen.“ (1)

So fasst ein juristischer Blog der Humboldt-Universität im Zusammenhang mit einem Urteil des Sozialgerichts Hamburg  vom 5. August 2016 den Sachverhalt eines Verfahrens zusammen, in dem die osteuropäische Betroffene mit Unterstützung des Deutschen Instituts für Menschenhandel Menschenrechte die Gewährung von Leistungen aus der Unfallversicherung beantragte - und gewann. Gefeiert wurde dieses Urteil  als "wegweisend" (Humboldt Law Clinic) bzw. "richtungsweisend" (Koordinierungsstelle gegen Menschenhandel).

Hier liegen also vor (mindestens):
  • Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung
  • Freiheitsberaubung und Entführung
  • Vergewaltigung/ sexuelle Nötigung
  • dirigistische und ausbeuterische Zuhälterei
Und dies müsste sogar nach den extrem lauen und dehnbaren deutschen Gesetzen zum Thema nach ihrer Angleichung an die weitestgehende Entkriminalisierung der Strukturen der Sexindustrie 2002ff noch gelten. Sagen wir es so: sogar in Deutschland ergibt sich hier ein gewisser „Anfangsverdacht“. Aber vielleicht ist dies eine zu optimistische Betrachtung.

Es ist auch müßig darüber nachzudenken, denn Gültigkeit erlangen hierzulande andere Einschätzungen und die Ausbeutung von Frauen in der Prostitution genießt eine solche Akzeptanz in all ihren Ausmaßen, dass ihre wüstesten Folgen offenbar nur um den Preis der absoluten Normalisierung und alltäglichen Hinnahme der Gewalt abgemildert werden dürfen: Nach deutscher neuer Lesart handelt es sich hierbei – siehe das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. Juni 2016, das am 5. August rechtskräftig wurde – nämlich nicht um massive Verbrechen an einer Person oder um Menschenrechtsverletzungen, sondern um einen „Arbeitsunfall“. (2)


Und das sollen wir nun feiern.

Mit anderen Worten: Eine Reihe schwerer Verbrechen an einer Frau in der Prostitution wird hiermit in der Praxis durch "Arbeitsunfall" sanktioniert.

In einem Land, das HIV, Aids, Hepathitis, Syphillis, Chlamydien und alle anderen Geschlechtskrankheiten als „Berufskrankheiten“ bezeichnet, sollte uns das natürlich nicht überraschen. (7)

Ein Arbeitsunfall setzt Arbeit im Sinne eines Arbeitsverhältnisses voraus, und um das geht es hier. Darum, dass praktisch keinerlei Standards gelten, wenn ein absolut ausbeuterisches Verhältnis bis hin zur unmittelbaren sexuellen Ausbeutung durch den Arbeitgeber (oder seinen „Kontaktmann“), ein Verhältnis, das gegen zahlreiche Gesetze verstößt (3), als „Arbeitsverhältnis“ normalisiert werden kann. Natürlich sind wir dahingehend konform mit der Entscheidung, dass Gesetzesverstöße noch dazu in einem extrem ungleichen Arbeitsverhältnis nicht zu Lasten der Arbeitnehmenden gehen dürfen.

Selbsverständlich wünschen wir uns, dass die junge Frau, um die es hier geht - wie alle Frauen (und andere), die in der deutschen Prostitution physisch und/oder psychisch zerstört werden - gut versorgt wird. Selbstverständlich wissen wir, dass diese Entscheidung andere Verfahren wegen der Verbrechen (theoretisch) nicht ausschließt. Und wir wissen auch, dass eine Entschädigung über die an der Frau begangenen Straftaten praktisch unmöglich ist, da sie für jede einzelne Situation den Zwang nachweisen müsste, da das Opferentschädigungsgesetz oft eher Hürden aufbaut als Unterstützung für die Opfer bietet und da sie nach deutscher Gesetzeslage vermutlich genauso „freiwillig“ aus dem Fenster gesprungen ist, wie sie „freiwillig“ in diesen „Arbeitsvertrag“ eingewilligt hat – und solange sie nicht sowohl Zwang in deutscher Definition (= Pistole auf der Brust) oder Ausbeutung (weitgehend ohne gültige Definition) nachweisen kann, steht sie genau da, wo vor der letzten Gesetzesänderung jede Frau stand, die Opfer einer Vergewaltigung wurde: einer aussichtslosen Situation, bar jeglicher Solidarität der Gesellschaft und des Rechtssystems.

Und unmittelbar gibt es auch keinen Zusammenhang – die Entscheidung, diese Verbrechen als „Arbeitsunfall“ zu werten, ist nicht für die de facto rechtlose Situation der Frau verantwortlich. Doch sie ist ihre Konsequenz, sowohl rechtlich als auch ideologisch.

Denn der hier vorgeschlagene Weg kann nicht der Ausweg aus dieser Situation sein. Sie bedeutet ihre Akzeptanz. Aus Menschenrechtsverletzungen wird ein Arbeitsverhältnis und damit ist dann rechtlich klar, wie es abgelegt werden kann, mögliche Kosten bleiben zwar nicht mehr ausschließlich an den verletzten Menschen hängen, sondern werden Angelegenheit von Verwaltungsstreitigkeiten; zuständig ist – auf einer grotesken Ebene sogar passend – die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) (4). Sie sind letztlich aus der Kategorie „Verbrechen“ herausgenommen und überstellt worden in die Kategorie „Unfälle“. Shit happens. Uunausweichlich.

Das toppt noch die übliche Sprache der „Tragödien“ und „Dramen“, wenn es um Gewalt gegen Frauen geht.

Und: Es zeigt die Folgen eines das Thema dominierenden Diskurses, einer Art über „Sexarbeit“, also Prostitution zu sprechen, die dazu führt, dass nicht einmal mehr ausgewiesene Menschenrechtsorganisationen Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung überhaupt noch erkennen können oder zum Fokus ihrer Arbeit machen, dass sie nicht einmal die Widersprüche in ihrer Arbeit erkennen, wenn diese zwar einerseits den Opfern des Menschenhandels helfen soll, andererseits jedoch das Verbrechen an sich normalisiert.

Mit diesem Urteil beruhigen wir nur – seht her, die Opfer kriegen ja jetzt Geld, ist doch ein Fortschritt! Wir verwalten und mildern die Folgen, zumindest vorübergehend, und lassen die Verbrechen an sich weiter geschehen, nehmen sie hin, schreiben an ihnen vorbei.

Anstatt das Problem an sich anzugehen, die Prostitution oder wenigstens den Menschenhandel wirksam zu beenden oder als Gewalt wahrzunehmen, wird jetzt ein Ausweichsszenario gefunden, das das gesamte Sexgewerbe völlig unberührt lässt und unsere nutzlosen Gesetze samt deren Auslegung, die dieses Gewerbe samt der Gewalt darin schützen, auch.

In einem am 23. Juni 2016 erschienenen Artikel gelingt es der taz zwar nicht, das „Arbeitsverhältnis“ der jungen Frau anders als bagatellisierend zu beschreiben (5), aber immerhin wird die Gesetzeslage zu Menschenhandel durchaus treffend dargestellt. Da die junge Frau Angst hat, will sie nicht direkt aussagen, und daher wird das Strafverfahren eingestellt. Eigentlich gibt es eine verbindliche (und von Deutschland noch rechtswidrig ignorierte) Direktive der EU zum Thema (6), eigentlich gibt es längst sogenannte „objektive“ Tatbestände, und ja – das neue Gesetz zum Thema Menschenhandel will sogar ein paar aufnehmen. Wenn es mal durch ist und angewendet wird... gibt es vielleicht ein paar Verbesserungen. Aber zur Zeit werden hier Strafverfahren eben eingestellt, weil die freiwillige, selbstständige Sexarbeit nach dem gängigen Diskurs die Frauen so selbstständig und stark macht, dass sie sich ganz alleine um ihre Rechtsangelegenheiten kümmern können, und ein Eingreifen des Staates, ein wirksamer Schutz gegen Menschenhandel und Ausbeutung gelten hier ja als „bevormundend“. So kann absolute Verweigerung von Solidarität natürlich auch bezeichnet werden.

Und wir wissen, dass das häufig passiert – sogar die taz , sogar die Hamburger Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel (beide für die Akzeptanz und weitestgehende Unterstützung der „Sexarbeit“ und ihrer Geschäftsmodelle) geben dies in dem Artikel zu. Damit steht die Frau – im Artikel wegen der Verletzungen als „immer noch berufsunfähig“ bezeichnet, alleine und ohne Kostenübernahme für die Verletzungen da. (Oder ihr Staat steht damit da.)

Alle diejenigen, die sich mit Opferschutz – gerade im Bereich sexueller Gewalt, „häuslicher“ Gewalt oder Stalking befassen, kennen außerdem die Probleme mit dem Opferentschädigungsgesetz, das an sich solche Fälle auffangen könnte. Die Hürden sind hoch, das Prozedere langwierig, Geld gibt es erst nach Jahren, und meistens wird ein tätlicher Angriff mit leicht messbaren Schäden vorausgesetzt. Die „messbaren Schäden“ sind durch die massiven Knochenbrüche an den Beinen und am unteren Rücken zwar gegeben, aber der Angriff? Ein Zwang? Hätte die junge Frau sich nicht anders wehren können? Per Internet Hilfe holen? (Sie kannte nicht einmal die hier gültigen Notrufnummern.) Aus dem Fenster schreien? (Sie wusste nicht, ob die Nachbarn nicht auf der Seite des Zuhälters stehen.) Ist sie nicht letztlich, rechtlich gesehen, „freiwillig“ gesprungen, so wie sie „freiwillig“ in diesen Arbeitsvertrag eingewilligt hat? 10.000e eingestellte Verfahren wegen Vergewaltigung lassen grüßen.

Sollen wir jetzt für Vergewaltigungsopfer auch eine Entschädigung über die Unfallversicherungen fordern? Wenigstens für diejenigen, die eine solche Versicherung haben? Warum nicht – Vergewaltigungen in einer Ausbildungsstätte können als „Unfälle“ gewertet werden. Also dehnen wir das doch aus, eine Vergewaltigung ist auch nichts anderes als ein „Unfall“ im Patriarchat.
Mit anderen Worten: Eine andere Chance als über die Unfallversicherung der Berufsgenossenschaft hat die Frau nicht. Zumindest, bis die Verletzungen an Beinen und „unterem Rücken“, also Becken und Wirbesäule verheilt sind. Und dann? Muss sie vor einem deutschen Gesundheitsamt weitere „Berufsunfähigkeit“ beweisen? Wird dann entschieden, dass das geheilte Becken ihren Beruf wieder zulässt, und dass mögliches Hinken der Tätigkeit nicht im Wege steht? Nein – dies ist nicht unser Zynismus. Es ist der des KOK und des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

Immerhin – zunächst gibt es Geld für die Behandlung. Und der „Arbeitgeber“, der Betreiber des Escort-Services muss jetzt wohl die Versicherungsbeträge nachzahlen, auf das Wutgeheul der Betreibenden warten wir gerne und auf die Probleme der Lobby-Seiten, die jetzt wieder vor ihrem üblichen Dilemma stehen: Angebliches Verteidigen der Rechte derer in der Prostitution, aber doch bitte nicht zu Lasten der Betreibenden, der „Vermittler“, auf die jetzt neue Kosten zukommen.

Uns bleibt Zynismus, wenn eine Gesellschaft und wenn Menschenrechtsorganisationen und Institute, die sich Begriffe wie „gegen Menschenhandel“ und „für Menschenrechte“ in die Namen schreiben, Verbrechen lieber normalisieren, sie als gegeben und als „Unfälle“ hinnehmen anstatt gegen sie vorzugehen und Gesetze zu ihrer Bestrafung und Verhinderung fordern. Doch bei all dem Zynismus sehen wir hier ein paar Lichtblicke.

Denn immerhin dürfte hiermit endlich etwas anderes passieren: Die Kosten der Prostitution fallen langsam den „normalen“ BürgerInnen auf die Füße und damit auch dem Staat, der bisher nur profitiert hat. Denn die Schäden sind gewaltig, und wenn sie als „Arbeitsunfall“ gewertet werden, dann können die Kosten dafür nicht mehr per Ausweisung oder „freiwilliger“ Rückreise an die Herkunftländer der Opfer delegiert werden. Vielleicht bringt das ja nun die Sozialversicherungsträger auf den Plan. Vielleicht kommen sie darauf, dass „Arbeitsverhältnisse“ oder -Situationen, die praktisch nur Schaden bei den „Arbeitenden“ anrichten, nicht existieren müssen. Und vielleicht gibt es jetzt eine Welle von Klagen, die deutlich machen, wie viele dieser „freiwilligen“ Verhältnisse und Verträge in diesem Milieu existieren – die meisten davon dürften der hier eingebrachten Definition eines "Arbeitsverhältnisses" entsprechen. Denn das Urteil legt ja nicht nur den Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung fest, sondern fixiert auch schriftlich, was von „freiberuflich“ und „selbstständig“ unter den hier gegebenen Bedingungen zu halten ist.

Und sollte die Hamburger Lesart, sexuell übertragbare Krankheiten bei Menschen in der Prostitution als „Berufskrankheiten“ zu werten (7), von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung anerkannt werden, dann entlastet dies diejenigen darin, die sich privat krankenversichern und lädt die Kosten dafür (wir sprechen von unter anderem von HIV-Infektionen, Aids als Folge und Hepatitis) ebenfalls dieser Berufsgenossenschaft, der VBG, und ihrer Versicherung auf.

In der Tat, auch wenn das Thema „Berufskrankheit“ noch offen ist, beim Thema „Beschäftigungsverhältnis“ hat das Hamburger Gericht zusammen mit dem Deutschen Institut für Menschenrechte und der Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel immerhin tatsächlich „richtungsweisend“ gesprochen – in einer Art und Weise, die sich für die VerfechterInnen der möglichst uneingeschränkten Sexindustrie als Bumerang erweisen kann.

Werden sich also das Institut für Menschenrechte oder die Koordinierungsstelle weiterhin für Opfer einsetzen? Weiterhin Entschädigungen durchfechten? Oder das Thema jetzt lieber einschlafen lassen, da nun der Blick auf die Kosten droht und das Ende der aufgeplüschten Sprache der „freiberuflichen“ und „selbstständigen“ von den Frauen ja so gewollten „Arbeit“?

Wir gehen einen anderen Weg – nicht den des Interessenabgleichs zwischen Versicherungsträgern, Gesundheitsämtern oder allgemeinen Krankenkassen, Sozialämtern und Ausländerbehörden. Der deutsche jetzt regulative Ansatz und das momentane Gerichtsurteil führen dazu, dass Menschenrechtsverletzungen kodifiziert und mit laufender und abgehakter Referenznummer versehen werden.

Menschenhandel, ausbeuterische Zuhälterei und Zwangsprostitution stehen hier eigentlich in Großbuchstaben an diesem Fall, doch dieses Gericht normalisiert das. Das Deutsche Institut für Menschenrechte und der KOK (8) feiern das. Von Entführung, Nötigung, Vergewaltigung, sexueller Nötigung etc. ganz zu schweigen – dies wird alles hingenommen, lieber nicht zu genau betrachtet, denn es geht ja um „Sexarbeit“. Diese Hamburger RichterInnen, die Koordinierungsstelle, das Institut für Menschenrechte und der gesamte Staat gehören vor einen internationalen Menschenrechtsgerichtshof gestellt, wegen der Hinnahme und Untestützung solcher Verbrechen, wegen ihrer Weigerung, die Täter und Täterinnen vor Gericht zu stellen, wegen ihres abgrundtiefen und absichtlichen Versagens darin, die Opfer zu schützen und zu unterstützen.

Wir fordern die Abschaffung der Prostitution über den schwedischen Ansatz, das sogenannte „nordische Modell“.

Wir sehen hier nur drei Wege, die Wahl zwischen drei Modellen. Entweder die Kostenübernahme der Schäden und Verbrechensfolgen durch Versicherungsträger und damit wenigstens Abmilderung der Folgen um den Preis der Hinnahme der Verbrechen an sich, oder die zu erwartende Entwicklung neuer Definitionen, die Flexibilität der Branche und ihrer UnterstützerInnen, die dafür sorgen werden, dass dieser Fall ein Einzelfall bleibt und die dafür sorgen werden, dass die Kosten doch bei denjenigen in der Prostitution landen, oder den Weg, das Geschäftsmodell abzuschaffen und damit zu erreichen, dass die von dieser Gewalt betroffenen Menschen tatsächlich vor Gerichten klagen können, die diese Gewalt erkennen.

Und in diesem Sinne das Opferentschädigungsgesetz noch einmal in seiner Zugänglichkeit überarbeiten, Gewalt gegen Frauen (und andere) als das sehen, was sie ist und anzuerkennen, dass „Freiwilligkeit“ oder „Zwang“ keine Kriterien sind, wenn es um Ausbeutung und Gewalt geht. Und bei Ausbeutung nicht die Definitionen anwenden, die sich in der Rechtsprechung rund um das „häppy sexwörk“ gebildet haben, sondern das gelten zu lassen, was unter die – ja genau die - „Sittenwidrigkeit“ fällt. Ausbeutung, die vorliegt, wenn ein Geschäftsmodell oder ein Arbeitsverhältnis dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ widerspricht. Das hat nämlich nichts mit Sex zu tun, aber sehr viel mit Ausbeutung.
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(1) Zitiert aus: Sexarbeit ist Arbeit! (Humbold Law Clinic, Grundundmenschenrechtsblog) http://grundundmenschenrechtsblog.de/auch-sexarbeit-ist-arbeit/#more-439 Zugriff am 18. August 2016, 20.00

(2) http://grundundmenschenrechtsblog.de/wp-content/uploads/2016/08/Urteil-SG-HH-vom-01072016-Prostitution-und-Arbeitsunfall-SGB-VII-anonymisierte-Fassung.pdf

(3) Für das Gericht in Hamburg lag das wesentliche Problem in der Abwesenheit gültiger Papiere bzw. einer Arbeitserlaubnis, pdf des Urteils s. o. Andere Straftatbestände, insbesondere Vergewaltigung konnten alleine schon deswegen nicht angesprochen werden, da dies tatsächliche Ermittlungsverfahren nach sich gezogen hätte.

(4)"Prostituierte arbeiten in aller Regel als Selbstständige. Damit ist ihr Unfall- und Gesundheitsschutz abhängig von ihrem freiwilligen Engagement. So wenig, wie die Bildschirmarbeitsverordnung bei einer freiberuflichen Sozialwissenschaftlerin zur Anwendung kommt, so wenig greifen Regelungen für z. B. Nachtarbeit oder Ruhepausen bei selbstständig tätigen Prostituierten. Die Unfallverhütungsvorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung (SGB VII) gelten nur für Mitgliedsbetriebe. Auf Selbstständige – auch Gründerinnen und Gründer einer Ich-AG – treffen die Vorschriften des Drittschutzes, also des Schutzes von Beschäftigten zu, sie sind für den eigenen Gesundheitsschutz aber selbst verantwortlich und können nicht verpflichtet werden. Ihnen steht – wie oben angeführt – die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in der Berufsgenossenschaft offen. Für die Tätigkeit der Prostitution käme am ehesten die Verwaltungsberufsgenossenschaft (VBG) in Frage. Hier können sich Künstlerinnen und „Künstler aus den Bereichen Wort, Musik, bildende und darstellende Kunst sowie andere freie Berufe“2 freiwillig versichern." Aus "Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes",  Auszug (S.19)  http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/prostitutionsgesetz/pdf/03.pdf

(5) „2012 war Natalja Dineva (Name aus Personenschutzgründen geändert) aus Osteuropa nach Deutschland gekommen, gelockt von der Anzeige eines Escortservices. Es ging um Sexarbeit, darauf hatte sie sich eingelassen. Unterkunft und Kleidung wurden gestellt, der Arbeitgeber kümmerte sich um Werbung und Fahrt in Clubs zu potenziellen Kunden. Nach ein paar Tagen sagte der Mann, er müsse sich um ihre Papiere kümmern“. Eine sehr milde Darstellung im Vergleich zu der immer noch milden Zusammenfassung zu Beginn dieses Artikels.

(6) EU-Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des Menschenhandels s.a. die Europaratskonvention gegen Menschenhandel ETS Nr. 197, die anders als Deutschland in der Entkriminalisierung der Sexindustrie und ihrer „operationalen Aspekte“ - also Bordellbetrieb und „Vermittlungsdienste“ - keinen gelungenen oder vielversprechenden Ansatz zum Vorgehen gegen Menschenhandel und Zuhälterei sieht. Im Gegenteil.

(7) http://www.hamburg.de/contentblob/117008/37ef50182a25693f0017da857ca92afb/data/prostitutionsgesetz.pdf Die Rechte der Prostituierten nach dem neuen Prostitutionsgesetz. Herausgegeben von: Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Umwelt und Gesundheit, Amt für Gesundheit und Verbraucherschutz Fachabteilung Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsförderung, November 2003 Seite 9

und: Die Rechte der Prostituierten nach dem neuen Prostitutionsgesetz. (Flyer) http://www.hamburg.de/contentblob/117010/375f476d3bcc23b9fec8158aa7898383/data/flyer-prostigesetz.pdf , eine Kurzform in Flyerform, die bei Hpatitis oder HIV für beschäftigte Prostituierte von Berufskrankheiten spricht, fur die sie in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert seien.

Zu Berufskrankheiten noch:
Das Bundesfamilienministerium widerspricht der Hamburger Definition in seinem „Auszug aus der Untersuchung 'Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes'“ , allerdings mit der merkwürdigen Behauptung, die mangelnde Definiton von Berufskrankheiten sei die Folge der geringen Zahl der abhängigen Beschäftigungsverhältnisse, die wiederum daran lägen, dass „Betreiber und Betreiberinnen von Prostitutionsbetrieben als Zimmervermietende und nicht als Arbeitgeber bzw. Arbeitsgeberinnen auftreten und ihnen sehr oft auch keine andere Möglichkeit gegeben wird, ...“
Was diese Betreibenden daran hindert, richtige Arbeitsverträge abzuschließen, wird nicht weiter erläutert, aber das ist ja nun in unserem Zusammenhang auch hinfällig: Das Gericht hat einge Feststellungen dazu getroffen, wann versicherungsbezogen eine Abhängigkeit vorliegt.
Auszug aus der Untersuchung „Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes“ Abschlussbericht. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Projektleitung: Prof. Dr. Cornelia Helfferich Wisschenschaftliche Mitarbeiterinnen; Dipl. Soz. Päd. Claudia Fischer, Prof. Dr. Barbara Kavemann, Dipl. Soz. Beate Leopold, Ass. jur. Heike Rabe,
Unter Mitarbeit von: Dr. Margarete Gräfin von Galen, Rechtsanwältin, Dipl. Psych. Katja Grieger . Frau von Galen hat im Laufe ihrer Karriere Menschenhändler verteidigt, Frau Rabe arbeitet am Institut für Menschenrechte im Bereich Menschenhandel, Frau Leopold arbeitet für die Nürnberger Anlaufstelle „Kassandra“, die zu ihrem Selbstverständnis die Lobbyarbeit für die ungehinderte Sexarbeit zählt. Mit Ausnahme von Frau Grieger sind alle Frauen auf der Liste durch Befürworten der Sexarbeit als Gewerbezweig und Bagatellisieren der Schäden aufgefallen.
http://www.bmfsfj.de/doku/Publikationen/prostitutionsgesetz/pdf/03.pdf

(8) Pressemitteilung der Koordinierungsstelle gegen Frauenhandel e.V.
http://www.kok-gegen-menschenhandel.de/fileadmin/user_upload/medien/Pressemitteilungen/PM_2016_Koofra.pdf

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