Mittwoch, 30. April 2014

Prostitution ist kein Frauenproblem: Zum Alltag der männlichen Prostitution

By Jorges (Jorges) [ CC-BY-SA-3.0
(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)]
Die aktuelle Prostitutionsdebatte wird oft zu einem Kampf Männer gegen Frauen erklärt: Da sind auf der einen Seite die Frauen, erklärte Feministinnen, die gegen die Legalisierung von Prostitution protestieren, weil damit die Ausbeutung und Erniedrigung von Menschen und ihren Körpern zur gesellschaftlichen Normalität erklärt wird und auf der anderen Seite die Männer, die sich ihr Recht auf bezahlten Sex im Puff nicht nehmen lassen wollen, die Triebbefriedigung als Dienstleistung verstehen und ihr patriarchales Recht darauf mit Zähnen und Klauen verteidigen. Wer gegen Prostitution ist, ist prüde, antiliberal und hat überhaupt von der Realität keine Ahnung. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass sich nicht nur Frauen prostituieren. Schätzungen zu Folge prostituieren sich in Deutschland zwischen 40.000 und 60.000 Männer, die Zahlen steigen.

In Berlin sind es rund 3000, in Frankfurt und München zwischen 600 und 700 meist junge Männer mit Migrationshintergrund, die sich prostituieren. Die meisten von ihnen sind wohnungslos, haben keine Krankenversicherung, keine Ausbildung und schlechte Zukunftsaussichten. Sie verdienen mit der Prostitution kaum genug zum Essen, zum Überleben reicht es nicht. Viele sind Gestrandete, die nach Deutschland kommen auf der Suche nach Arbeit, einem besseren Leben, das es hier nicht gibt. Andere sind ehemalige Heimkinder, Obdachlose, wurden schon in der Kindheit missbraucht. Alles was bleibt, ist schließlich, den eigenen Körper zu Markte zu tragen und auf den Strich zu gehen. Sie sind Gewalt und Rassismus, Marginalisierung und Diskriminierung ausgesetzt. Prostitution ist kein Problem männerhassender Feministinnen. Sie ist die Institution einer Gesellschaft, in der alles zur Ware gemacht wird und letztlich nur zählt, wer zahlen kann. Dieses Prinzip macht auch vor dem Männerkörper nicht halt, vor allem wenn er Ausländer ist, wenn er jung und arm ist. Prostitution betrifft uns alle, denn sie ist Ausdruck der Macht- und Ausbeutungsverhältnisse unserer Gesellschaft.

Zur Geschichte der männlichen Prostitution


Männliche Prostitution ist wie die Prostitution an sich keine Erfindung der Neuzeit. Im antiken Griechenland war die „Knabenliebe“ weit verbreitet und wurde als Ideal von Freundschaft und Sexualität gepriesen, da die Frau prinzipiell als geringer und „schmutziger“ betrachtet wurde. Doch es war kein Austausch auf Augenhöhe: Ältere, gesellschaftlich höher gestellte Männer teilten Wissen und Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen mit jüngeren Männern im Austausch gegen sexuelle Gefälligkeiten. Die Prostitution freier Männer war unter Strafe verboten, nur Sklaven und Unfreie durften sich prostituieren. Auch hier zeigt sich der bereits von der weiblichen Prostitution bekannte Zusammenhang zwischen Prostitution und Sklaverei. Mancher Lustknabe war musisch gebildet, andere hatten keinen höheren Rang als eine Sache. Auch Kastraten waren beliebte Sexpartner für Männer. Im Mittelalter wurde Sex unter Männern als “Sodomie” geächtet und sogar mit der Todesstrafe belegt, weibliche Prostitution wurde geduldet, männliche streng verfolgt. Zahlreiche Bußbücher belegen jedoch, dass sie trotzdem stattfand. Ein allmählicher Wandel fand im Zuge der bürgerlichen Revolutionen ab 1789 statt. Homosexualität war nicht länger ein Verbrechen, sondern eine Krankheit. Gleichzeitig gab es einen lebhaften „Sextourismus“ in die Kolonien. Nach dem 1. Weltkrieg stieg nicht nur die Zahl der weiblichen Prostituierten in Folge der Weltwirtschaftskrise an – auch viele ehemalige Soldaten prostituierten sich in Ermangelung anderer Arbeitsmöglichkeiten. Die „Goldenen Zwanziger“ schufen ein gesellschaftliches Klima, in dem Homosexualität zunehmend auch offen ausgelebt wurde. Unter den Nationalsozialisten wurde sie wieder verboten, auch in den 1950er und 1960er Jahren blieb das so, männliche Prostitution war ebenso wie weibliche verboten und galt als sittenwidrig. Sie fand natürlich trotzdem statt. Gerade in Berlin entwickelte sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine sehr lebendige „Stricherszene“, junge Männer, die von der Prostitution lebten und angeblich ein wildes Partyleben führten, waren den Ordnungsmächten ein Dorn im Auge.

Sehr junger Einstieg


Die Szene der männlichen Prostituierten in Deutschland ist nicht einheitlich, doch sie kennzeichnet sich vor allem dadurch, dass sie sehr jung ist. Der größte Teil ist zwischen 14 und 24 Jahren alt. Eine Gruppe machen Jungen aus, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommen, in denen Gewalt, Alkohol und Missbrauch herrschen, die Vernachlässigung erlebt haben und häufig ohne Vater aufwachsen. Überdurchschnittlich viele „Stricher“ wachsen im Heim auf. Dort kommen sie durch ältere Heimkinder in Kontakt mit der Stricherszene und erfahren zwei Dinge: Die Freier überschütten sie oft mit Zuneigung und Geschenken. Sie dürfen tagelang mit Konsolen spielen, wach bleiben, solange sie wollen, Drogen nehmen und bekommen zum ersten Mal Aufmerksamkeit. Dass dafür sexuelle Handlungen von ihnen verlangt werden, nehmen sie in Kauf. Gleichzeitig bekommen sie Geld, und das Geld ist eine so starke Motivation, dass sie bereit sind, sich weiter zu prostituieren. Andere Jungen werden noch als Kinder von Pädosexuellen angesprochen. Vor allem Kinder, die sich selbst überlassen werden, werden von dieser Gruppe, die untereinander gut vernetzt ist, angesprochen und mitgenommen und nach dem obigen Muster mit Aufmerksamkeit und Geschenken überhäuft, bis sie gefügig sind und untereinander weitergereicht. SUB/WAY Berlin, eine Anlaufstelle für Stricher, hat vor über zehn Jahren eine Umfrage unter Jungen zwischen 10 und 15 Jahren gemacht und dabei herausgefunden, dass jeder vierte von ihnen schon einmal durch einen Erwachsenen mit einer sexuellen Intention angesprochen wurde, zum Beispiel in einem Schwimmbad. Jeder 16. von ihnen hatte bereits eindeutige sexuelle Erfahrungen mit einem Erwachsenen. Diese Erfahrungen prägen die Sexualität und die Wahrnehmung der Jungen, noch bevor sie in der Lage sind, eine eigene Sexualität ohne Fremdeinfluss zu entwickeln. Sie sind sich oft gar nicht bewusst, dass sie Opfer sind. Sind die Jungen mit 14 oder 15 dann zu alt, werden sie in die offene Stricherszene abgeschoben oder man schickt sie eine Weile kontrolliert auf den Strich, um an ihnen zu verdienen.

Wachsende Gruppe der Migranten


Die zweite Gruppe, die stetig wächst, sind junge Migranten. Waren es in den 1970er Jahren noch vor allem junge Männer aus der Türkei und Jugoslawien, so sind es heute vor allem Rumänen und Bulgaren, die sich prostituieren. Viele von ihnen sind erklärtermaßen hetereosexuell, haben zu Hause Frauen und Kinder. Sie kommen hierher, um sich einen Job auf dem Bau oder in der Gastronomie zu suchen und finden keinen. Sind sie jung genug, bietet die Prostitution ihnen eine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Für diese Gruppe ist es wichtig, sich von den „Schwulen“ abzugrenzen, in dem sie zum Beispiel nur passiven Oralsex und aktiven Analsex ausüben, um auf diese Weise ihre Männlichkeit nicht in Frage zu stellen. Gleichzeitig herrschen gerade hier große Wissensdefizite über sexuell übertragbare Krankheiten, sie haben so gut wie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Der Umstand, homosexuelle Praktiken zum Überleben ausüben zu müssen und diese vor Familie und Freunden in der Heimat aus Scham geheimhalten zu müssen, führt zu Frust und Aggression, die sich häufig in Gewalttätigkeit und Drogenkonsum entlädt. Sie haben aufgrund schlechter Ausbildung und Sprachkenntnisse keine Chance auf einen regulären Job, träumen aber häufig von einem „normalen“, geregelten Leben mit Frau und Kindern. Die Prostitution ist gerade für sie oft mit Widerwillen verbunden, die sie nur mit viel Verdrängung ausüben können. Andere Migranten sind homosexuell und vor der Diskriminierung in ihren Heimatländern nach Deutschland geflohen. In Rumänien und Bulgarien ist der Einfluss von Tradition und Kirche groß, Homosexualität wird dort noch immer verpönt. Die Prostitution ist für sie der Preis, ihre Sexualität ausleben zu können, doch auch sie leben meist unter der Armutsgrenze.


Gerade unter den Roma in Bulgarien und Rumänien haben sich die Verdienstmöglichkeiten in der Prostitution herumgesprochen und nicht nur die Frauen kommen hierher, um sich zu prostituieren, sondern auch die Männer. Solange in der Heimat niemand etwas davon erfährt, womit sie ihr Geld verdienen und sie es dazu verwenden können, ihre Familien zu ernähren, bleibt ihr Männlichkeitsbild intakt. Obwohl jeder weiß, was sich wirklich abspielt, wird in den Dörfern nicht darüber gesprochen.


“Stricheralltag”


Männliche Prostitution findet vor allem in sogenannten Stricherkneipen statt, in denen Freier auf Stricher treffen. Diese sind in der Szene meist einschlägig bekannt. Andere Orte, die aber in der Rangordnung deutlich niedriger angesiedelt sind, sind öffentliche Plätze wie Bahnhöfe und Toiletten und Parkanlagen, doch es gibt auch sogenannte Boys-Clubs, also Bordelle mit ausschließlich männlichen Prostituierten. Ein kleiner Teil der männlichen Prostitution findet als Call-Boys auch über das Internet statt. Diese Gruppe ist oft besser organisiert und hat auch eine positivere Einstellung zu der eigenen Tätigkeit, achtet mehr auf Gesundheit und Vorsorge und verdient auch mehr. Weitere Orte sind Pornokinos und Videokabinen, in denen die Prostitution oft stillschweigend geduldet wird, weil die Kunden nur ihretwegen kommen. Ein durchschnittlicher Stricher bekommt für eine „Dienstleistung“ kaum mehr als zwischen 20 und 50 Euro. Die meisten von ihnen sind wohnungslos, haben kein geregeltes Leben, sondern schlafen bei Freiern, in Beratungsstellen oder auf der Straße. Da viele bereits in der Kindheit Gewalt und sexuellen Missbrauch erlebt haben, sind sie oft mehrfach traumatisiert und haben keine Gelegenheit, diese Traumata aufzuarbeiten. Gewalt untereinander und auf der Straße sind zugleich ein ständiges Thema. Als „Stricher“ werden sie zugleich von der Gesellschaft ausgeschlossen und diskriminiert, eine Rückkehr in ein „normales“ Leben ist schwer bis unmöglich. Stricher über 24 haben es zunehmend schwer, Freier zu finden, weil die Szene auf Jugendlichkeit fixiert ist. Danach kommt meist der ganz große Absturz. Auf der Freierseite finden sich oft Männer, die sich nicht als homosexuell geoutet haben, also in einer heterosexuellen Beziehung leben und für die Prostitution die Möglichkeit ist, sexuelle Neigungen auszuleben, ohne dass ihr öffentliches Leben in Gefahr gerät. Sie können oft nicht in der Schwulenszene nach Partnern suchen, weil das die Gefahr einer Entdeckung mit sich bringt. Ein anderer Teil sind offen Homo- oder Bisexuelle, die aufgrund ihres Alters oder Erscheinungsbildes Schwierigkeiten haben, auf anderem Wege Sexpartner zu finden oder deren Vorlieben sich explizit auf die besonders jungen Stricher richten. Frauen finden sich kaum unter den Kunden, tatsächlich gibt es wohl nur sehr wenige Männer, die von ihrer Tätigkeit als „Call-Boy“ für weibliche Kunden in Deutschland leben können.

Prostitution ist die Zementierung von Ausbeutung


Für männliche Prostitution gilt, was auch für weibliche Prostitution gilt. Es gibt auch unter männlichen Prostituierten jene, die ihren Beruf gerne und mit Professionalität ausüben, die ein Klientel haben, das ihnen ein gutes Auskommen sichert. Aber sie sind eine verschwindende Minderheit. Die meisten “Stricher” sind die Verlierer in unserer eigenen Gesellschaft, die Heimkinder, um die sich keiner kümmert, die ohnehin Missbrauchten, die Armen, die Ausgeschlossenen, oder die Migranten aus den „Armenhäusern“ Europas, aus Bulgarien und Rumänien, nicht zufällig sind viele von ihnen Roma. Es sind die ohnehin Diskriminierten, die sozialen Paria, die sich zur Prostitution entschließen, weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, wenn sie überleben wollen oder weil sie von gewissenlosen Erwachsenen, die ihre Schutzlosigkeit ausnutzen, an dieses Leben herangeführt werden. Egal ob ökonomischer Zwang oder sexueller Missbrauch – bei keiner dieser Gruppen kann von echter Freiwilligkeit gesprochen werden. Selbst wer als Schwuler hierher flieht und sich hier prostituiert, will eigentlich lieber etwas anderes machen, als fremden Körpern zu Diensten sein. Es sind die Armutsflüchtlinge, die ohne einen Cent in der Tasche hier ankommen, es sind Kinder und Jugendliche, die unseres Schutzes bedürfen, die sich prostituieren. Hier von Freiwilligkeit zu sprechen, ist zynisch. Keiner von ihnen hat eine Krankenversicherung, geschweige denn auch nur eine Zukunftsperspektive. Ohne die Initiative von Sozialarbeitern wären sie vollkommen sich selbst überlassen, auch weil männliche Prostitution ein blinder Fleck in der Gesellschaft ist. Männliche Prostitution stellt eine doppelte Devianz dar – zum einen die Prostitution an sich, zum anderen die Abweichung vom gewohnten Männlichkeitsbild der Gesellschaft. Aus diesem Grund gilt “Stricher” auch als eine der schlimmsten Beleidigungen überhaupt für einen Mann.

Das Prostitutionsgesetz, als Manifest der großen Freiheit für Sexualität gefeiert, lässt männliche Prostitution ebenfalls vollkommen außer Acht, ein weiterer Beweis seiner patriarchalen und sexistischen Ausrichtung. Prostitution ist kein Geschäft unter den Geschlechtern, kein Deal unter Gleichberechtigten. Es ist die Zementierung von Armut, Ausbeutung, von Missbrauch, Gewalt und Unrecht an den Schwachen und Schwächsten, an unseren eigenen Kindern, an Menschen, die hierher kommen mit Träumen in den Herzen und die auf diese Träume ein ebenso großes Recht haben wie wir. Stattdessen ist der Tenor dieser Debatte, dass sie froh sein sollen, ihre Körper für ein paar Euros den reichen deutschen Freiern hinhalten zu dürfen und danach als Zombies in ihre Heimatländer zu verschwinden, damit sie auch ja nicht die deutschen Sozialkassen belasten.

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